Dieser Dokumentarfilm von Harun Farocki zeigt verschiedene Meetings im Architekturbüro Sauerbruch Hutton in Berlin. Der Film erklärt nicht, wer die Angestellten und wer die Chefs sind und regt so zur genauen Beobachtung an, zum Blick auf Gesten und Mimiken, zum Hören von Wortwahl und Stimmlagen.
Die Chefs (Matthias Sauerbruch und Linda Hutton) erkennt man an ihrer Körpersprache: versteinerte Gesichter, souverän übereinandergeschlagene Beine, der Knöchel des Zeigefingers an der Oberlippe. So umspült von geheimnisvollen Gedanken lauschen die Chefs den Präsentationen ihrer Angestellten. Mal geht es um einen Stuhl, mal um Gebäudeplanung, mal um Fensterklinken. Und wenn die Präsentation durch ist, folgt ein geheimnisvolles Urteil. Besonderes Highlight ist, wenn Herr Sauerbruch sich nach der Präsentation einer Gebäudeplanung total lässig auf den Boden setzt und ein paar Krakel auf einen Zettel malt, um zu zeigen, wie er sich das vorstellt. Man darf staunen.
Die Angestellten erkennt man daran, dass sie während ihrer Audienz bei den Chefs viel reden und herum laufen und irgendwie besorgt aussehen. Während die Chefs mit langen Kunstpausen Suspense erzeugen, müssen die Angestellten liefern. Der Umgang ist freundlich und die Hierarchien flach. Man dutzt sich und spricht gern Englisch.
In einer Szene schlägt eine Angestellte vor, einen Stuhl, an dem sie schon eine Weile arbeitet, doch nicht aus einem einzigen Holz zu fertigen, wie ursprünglich geplant. Das wirke zu gewollt wie ein Studentenprojekt. Darauf antwortet der Chef, er fände es „echt schade“, von der ursprünglichen Idee abzuweichen, und sie habe Recht: der von ihr entworfene Stuhl sehe momentan wirklich aus wie ein Studentenprojekt. Sie solle aber weiter an dem bestehenden Design-Ansatz festhalten. Konkrete Vorschläge macht er nicht, vermutlich will er ihr „kreativen Freiraum“ lassen.
Als er sagt, der Stuhl sehe tatsächlich aus wie ein Studentenprojekt, presst die Angestellte für ein paar Sekunden die Lippen zusammen, als falle ihr das Herunterschlucken gerade nicht leicht. Wer freut sich nicht über ein solches rhetorisches Geschenk vom Arbeitgeber? Auch nach der Arbeit kann man noch davon zehren, zum Beispiel wenn es einen stundenlang in den Schlaf begleitet.
Im Buch Bullshit-Jobs (2018) vergleicht David Graeber solche Chef-Mitarbeiter-Dynamiken mit Sadomaso-Praktiken. Das Schöne am Arbeitsplatz ist aber, so Graeber, dass es am Arbeitsplatz kein Safeword gibt, mit dem die erniedrigte Person die täglichen Erniedrigungen beenden kann. Das macht Arbeit heute überhaupt erst aufregend. Zumal die Erniedrigungen passiv und kaum sichtbar sind. Es ist diese leichte Verunsicherung, die den Arbeitsalltag (und oft auch den Feierabend) wirklich bereichert. Wer dafür Geschmack hat, wird vielleicht auch irgendwann ein freundlicher Chef, dessen Anerkennung den Angestellten wichtig ist.
Ein Mörder kommt aus dem Gefängnis frei und will sofort wieder morden. In einer Sequenz, die in einem Imbiss spielt, drücken Kamera und Schnitt seinen Morddrang aus. Wir sehen Nahaufnahmen weiblicher Körperteile und hören Schmatz-Geräusche des gerade wurstessenden Mörders. Für ihn sind die beiden Frauen eine Ansammlung von Körperteilen, wie Nutztiere, reduziert auf ihre Schmackhaftigkeit. Und wie Tiere geben diese Frauen nur Laute von sich (ihre Unterhaltungen sind gedämpft und unverständlich wiedergegeben).
Das Besondere an Angst ist seine Ablehnung von psychologischen, soziologischen oder sonstwie gearteten Erklärungen. Dass der Mörder mordet, ist einfach gegeben. Das Morden und die Gewalt sind hier weder ein in Charakterlogik begründeter Drang, noch sind sie Folge von äußeren Zwängen. Stattdessen zeigt der Film das Morden in einem Modus der Zweckrationalität. Lange Sequenzen zeigen es als langwierigen Prozess voller praktischer Schwierigkeiten. Die Opfer wehren sich mit aller Kraft. Dabei zersplittern Scheiben, Möbel und Gegenstände fliegen durcheinander, es kommt zu einer Überschwemmung. Zum Schluss ist das abgelegene Waldhaus, in dem der Mörder drei Menschen tötet, komplett verwüstet. Die Spuren sind im Gegensatz zu Psycho (1960) nicht mehr wegzuwischen. Dieser Umgang mit Gewalt verschließt sich dem, was wir von Filmgewalt gewohnt sind. Die Gewalt ist weder eingewoben in folkloristische Mythologien (wie im Slasher), noch in Spannungs-Mechanismen (wie in hitchcockianischen Thrillern). Sie ist einfach nur da und erzeugt gelähmtes Starren. Weiter oben habe ich geschrieben, der Film würde Erklärungen ablehnen. Allerdings psychologisiert der Mörder in Voice-Over-Monologen selbst seine Taten. Seine Stimme klingt, als gefalle ihm, dass wir ihm zuhören. Der Film spielt diese Monologe auch dann ein, wenn gerade Szenen grausamer Gewalt zu sehen sind. Dass der Mörder von seiner schlimmen Kindheit erzählt, erzeugt keine Klarheit, sondern fügt der verstörenden Wirkung der Bilder einen höhnischen Kontrast hinzu.
Es wäre leicht, den Film als Gegenentwurf zum Slasherfilm zu sehen, oder zu True Crime. Aber ihn auf eine medienkritische Haltung zu reduzieren (wie Haneke sie behauptet zu vertreten), greift zu kurz. Der Film stellt die Banalität von Gewalt dar. Dabei unterscheidet sich Angst zu Filmen wie beispielsweise Idi i smotri (Komm und Sieh, 1980) darin, dass er sich nie künstlerisch über die Gewalt stellt. Er inszeniert sie nicht virtuos und er lässt auch nicht irgendwann mal Mozart laufen, damit sich das Publikum doch noch ein wenig kultiviert fühlen kann. Zudem sind alle Figuren auf bürgerliche Rollen reduziert. Die beiden Frauen vom Anfang im Imbiss sitzen am nächsten Tag immer noch mit den gleichen Klamotten am selben Platz, wie auch der ältere Herr, der hier scheinbar rund um die Uhr Zeitung liest. Alle Figuren, die in diesem Film auftauchen, wirken kalt und starr wie Leichen. Es ist ein Blick auf Gesellschaft als toter Ort. Eine wichtige Rolle spielt der Dackel, der in dem abgelegenen Waldhaus wohnt. Haustiere (vor allem Hunde) sind etwas, was der unterdrückte Mensch selbst unterdrücken kann. Als Pointe zeigt der Film, dass die Unterdrückung des Hundes nur eine Illusion ist, denn seine Herrchen sind ihm egal, er will nur gefüttert werden. Zum Schluss hüpft der Dackel zu dem, der gerade sein Herrchen getötet hat, ins Auto.
The Other Side Of The Wind stellt zwei Stile einander gegenüber: Den Vérité-Stil, bei dem Dialoge scheinbar improvisiert werden, rau und dokumentarisch gefilmt, ohne Orientierung in den Charakterdynamiken. Und den betont künstlerischen Stil des alten Regissuers Jake Hannaford, gespielt von John Huston, der eine Investoren-Party schmeißt, um seinen neuesten unvollendeten Film vorzuführen und im besten Fall Geld für dessen Vollendung zu bekommen. Dieser Film im Film um Oja Kodar, die allein und nackt durch urbane Kulissen wandert, wirkt durch seine Rätselhaftigkeit und psychoanalytische Symbolik wie eine Parodie auf selbstwichtiges Kunstkino. Aber Welles hat diese Szenen mit großem Ernst gedreht und einige hypnotische Sequenzen hinbekommen (Höhepunkt ist eine klaustrophobische Sexszene im Auto). Hinter der Maske Jake Hannaford erlaubt sich Welles die Freiheit, an sein eigenes Künstlertum zu glauben und sich zugleich vom Zwang der Vermarktbarkeit von Filmen zu lösen.
Jeder Film kostet Geld und muss deshalb irgendeinen Markt und irgendwelche Geldgeber befriedigen. Dazu kommen irgendwelche Stars, die an ihrem Öffentlichkeitsbild feilen und irgendwelche Manager, die aus Angst um ihren Job irgendwelche „Ideen“ kriegen, und viele, viele andere Parteien, die sich erbitterte Stellungskriege liefern. Das ist überall dort so, wo an der Entscheidung, ob ein Film grünes Licht bekommt oder nicht, viele Manager beteiligt sind. Diese Manager sind Executive Producer, Marketinganalysten, PR-Experten, Studioanwälte und so weiter. Leute, die weder Ahnung von Filmen haben, noch überhaupt wissen, wozu sie eingestellt wurden. Um die extrem gut bezahlte Präsenz dieser Menschen zu rechtfertigen, werden Meetings einberufen, die im besten Fall Geldverschwendung sind. Meistens wirken sie aber schädlich auf den Film, weil sich die Anwesenden dazu genötigt sehen, mit einem „Ergebnis“ aus dem Meeting zu gehen, das dann beispielsweise so aussieht, dass neue Drehbuchautoren für sinnlose Überarbeitungen angeheuert werden, oder dass ein Termin für eine neues Meeting vereinbart wird, damit bis dahin jeder noch mal „in sich gehen“ und „brainstormen“ kann. Mit den Gehältern dieser Manager wird viel Geld verbrannt. Mit diesem Geld hätten viele Filme gedreht werden können. Es gibt natürlich Ausnahmen im amerikanischen Kino, siehe das alte Studiosystem, oder Cannon Films, oder Roger Corman (der Bürokratie hasst), oder wenn ein mächtiger Regisseur diesen Wahnsinn einfach übergeht (zum Beispiel Eastwood oder Lumet). Aber dieser Wahnsinn ist die Norm (auch außerhalb der Filmbranche). Drehbuchautor William Goldman hat das in seinem Klassiker Adventures In The Screen Trade (1983) genau beschrieben.
The Other Side of the Wind entstand außerhalb dieses Wahnsinns, ist aber Ausdruck eines erbitterten Kampfes dagegen. Dieser Kampf zeigt sich im ständigen Wechsel des Bildformats, der Körnigkeit und der Farbigkeit, oder darin, dass Oja Kodar in einer Szene von einem Shot zum nächsten sichtbar um Jahre altert. Welles musste über Jahre hinweg mit verschiedenen Kameras und Filmmaterial drehen, abhängig davon, was gerade verfügbar war und wie viel Geld er gerade hatte. Es gab kaum Crew oder Equipment. Kamerafahrten wurden gemacht, indem sich Kameramann Gary Graver an den Füßen über den Boden schleifen ließ. Im Schnitt versucht Welles gar nicht erst, die vielen so entstandenen Sprünge und Brüche zu kaschieren, um den Krampf, diesen Film zu drehen, spürbar zu machen. Er kontert den Wahnsinn der Filmindustrie mit einer eigenen Art von Wahnsinn. Allerdings weiß niemand, ob er den Film in dieser Form wirklich veröffentlicht hätte. Der Film ist, wie fast all seine Filme, eine Glaubensfrage. Ich glaube jedenfalls nicht, dass er die Musik von Michel Legrand so aufdringlich eingesetzt hätte. Das Happy End dieses legendären Films ist schließlich, dass Netflix (ein film- und publikumsfeindlicher Konzern) ihn nutzte, um sich als Retter der Kunst aufzuspielen.
Die letzten dreißig Minuten liefern dem Publikum, worauf es die ersten siebzig gewartet hat: drei unmögliche Tanznummern von Busby Berkeley, mit Ohrwurmmusik und Massenchoreographien, ähnlich der Nazi-Aufmärsche in Triumph des Willens (1935) oder den heutigen Massentänzen bei nordkoreanischen Sportveranstaltungen. Footlight Parade trägt seine Propaganda-Rhetorik stolz vor sich her, wenn in der Shanghai Lil-Sequenz die Matrosen eine Mosaik-Flagge der USA über ihren Köpfen ausbreiten, dann auf dieser Flagge ein riesiges Gesicht von Präsident Franklin D. Roosevelt erscheinen lassen und zum Abschluss den Adler des National Recovery Act bilden, dem von Roosevelt auf den Weg gebrachten Programm zur Rettung der Amerikaner aus der Großen Depression. Berkeleys Tanznummern sollen zeigen, dass Amerika mit vereinten Kräften Unglaubliches leisten kann. Die Matrosen formen den Adler zusammen mit einer Horde chinesischer Prostituierter.
Niemand verführt so galant zum Heiraten und Kinderkriegen wie Busby Berkeley in der Honeymoon Hotel-Sequenz. Die kecke und doch weiche Ruby Keeler zieht mit dem lachenden Lüstling Dick Powell ins Flitterwochenhotel, wo sich bei ihrer Ankunft jeder einzelne Hotelmitarbeiter in einer kurzen Strophe vorstellt. Damit würdigt die Nummer jeden Arbeiter in der Funktion, die ihm in dieser Fortpflanzungsfabrik zukommt. Das Flitterwochenhotel hat den Zweck, die Fortpflanzung der frisch Vermählten sicher zu stellen. Die anderen frisch Vermählten, die hier wohnen, nehmen die Ankunft eines neuen Paars zum Anlass für eine Tanznummer im Hotelflur und den einzelnen Zimmern. Die Männer gehen in die Sauna, während die Frauen die Neue in ihre Mitte nehmen. Dabei tragen die Männer alle die gleichen Anzüge und Bademäntel und die Frauen alle die gleichen Nachkleider. Alle tragen Uniformen. Die Sequenz stellt die Ehe als Stätte der Fortpflanzung und Gleichschaltung dar.
Die Männer lassen ihre Frauen in ihren ökonomisch aufeinander gestalpelten Honeymoon-Suites allein. (Ari Aster weint neidisch.)Nun stecken die Frauen ihre Köpfe aus den Zimmern, um Ruby Keeler zu erklären, wie es hier so läuft.
Und dann ist da der völlig wahnsinnige Wassertanz, bei dem das Individuum, Ruby Keeler, mit der Masse verschmilzt und sich mit unzähligen kaum bekleideten Frauen auf einem Wasserfall räkelt und von dort in ein Wasserbecken springt, wo sie gemeinsam geometrische Formen bilden, Kreise, die sich zusammen und auseinander ziehen, schlangenförmige Linien und irgendwann eine riesige Hochzeitstorte. Nascht von diesen süßen Nixen, sagt Berkeley, und lässt sie in die Kamera lächeln und fährt unter ihren gespreizten Schenkeln entlang. Diese Wasserorgie wirkt, als hätte Berkeley den Production Code kommen sehen.
Die ersten siebzig Minuten, inszeniert von Lloyd Bacon, sind ein Pre-Code-Geklüngel um die Liebesabenteuer und -intrigen des Personals eines Musical-Studios (extrem garstige Dialoge), in dem James Cagney dringend Ideen braucht, um das Studio nach der Großen Depression über Wasser zu halten. Schauspieler sprachen damals schön schnell. Die Männer klangen wie Maschinengewehre und die Frauen zwitscherten.
Zwei Freundinnen, Beth (Caitlin FitzGerald) und Anna (Mackenzie Davis), beide Schauspielerinnen, beide bald dreißig, fahren übers Wochenende in ein Waldhaus außerhalb von Los Angeles, um ihre Freundschaft zu beleben. Auf der Hinfahrt sprechen sie über Alltags-Themen, erzählen sich Anekdoten und reden über die Männerdominiertheit ihrer Branche. Schon ein Stopp in einem Restaurant enthüllt ihren Konflikt. Hier fragt die Kellnerin Beth nach einem Autogramm. Beth ist nämlich erfolgreicher als Anna und kann von ihrer Schauspielerei leben. Sie spielt in einer Bierwerbung mit, ist in einem Branchen-Magazin abgebildet und wurde kürzlich für die Hauptrolle in einem Horrorfilm gecastet. Sie gibt sich bescheiden und der Kellnerin das Autogramm. Doch dann weist Beth die Kellnerin darauf hin, dass auch Anna Schauspielerin ist und zwingt damit Anna, gegenüber der Kellnerin ihre Erfolglosigkeit auszusprechen. Solche Angriffe, für Außenstehende unsichtbar und für die Opfer nicht klar als Angriffe erkennbar (war ja vielleicht nicht böse gemeint), prägen die erste Hälfte des Films. Blitzhafte Einschübe kurzer Szenen (untermalt mit Gruselmusik und rückswärts sprechenden Stimmen) erinnern immer wieder daran, dass die Freundinnen Konkurrentinnen sind. Sie konkurrieren um Rollen in Werbungen und schlechten Horrorfilmen, um Männer, um Agenten, um Model-Jobs und um das Wichtigste: Schönheit.
Regisseurin Sophia Takal (als Schauspielerin vor allem bekannt für ihre Rollen in Joe Swanbergs The Zone und All The Lights In The Sky, 2019 Regisseurin des zweiten Remakes von Black Christmas) hat mit Caitlin FitzGerald und Mackenzie Davis zwei Frauen gecastet, die sich stark ähneln. Sie haben schmale Münder, Nasen und Wangen, die genau gleichen Haut- und Haarfarben und (wie Sex- und Duschszenen betonen) die gleichen Körpermaße. Diese Ähnlichkeit schafft Paranoia, denn Ähnlichkeit im Showgeschäft heißt Austauschbarkeit. Beths und Annas Blicke während ihrer Gespräche prüfen und werten gegenseitig ihre sich ständig ändernden Looks. Mit jedem neuen Outfit, jedem neuem Zopf, jeder neuen Haarspange verleitet der Film (zumindest mich) dazu, die Schönheit der beiden Frauen neu zu vergleichen. Es entsteht eine Atmosphäre aus Misstrauen, Eifersucht und gegenseitiger Sabotage. Die vielen Closeups in der ersten Filmhälfte fangen ihre Blicke und Gesten filigran ein und betonen, wie nah sich die Beiden durch ihre Konkurrenz, durch ihre Feindschaft sind. Der Horror ist, dass Beth und Anna eigentlich wirklich wieder kameradschaftlich und liebevoll miteinander sein wollen.
Beth genießt es, Anna neidisch, eifersüchtig und depressiv zu machen. Sie deponiert eine Zeitschrift für Anna, in der Beth als vielversprechendes Hollywood-Gesicht abgebildet ist. Sie setzt sich mit einem Drehbuch, dessen Hauptrolle sie spielt, zu Anna auf den Balkon. Sie flirtet mit einem Mann, an dem Anna interessiert ist. Alles unterschwellig. Nachts hört Beth Anna in ihrem Zimmer weinen. Sie stellt sich vor Annas Tür, hebt die Hand zum Klopfen, doch geht wieder schlafen. Beth nutzt Annas Leid, um sich besser zu fühlen. Sie nutzt Anna als Spiegel, in dem sie sieht, wie sie geworden wäre, hätte sie wie Anna die „richtigen“ Entscheidungen getroffen: todunglücklich.
Anna gibt sich nämlich nicht für Nacktrollen her, sie sagt, was sie denkt, sie lässt sich nicht korrumpieren oder unterdrücken (der Film suggeriert, dass sie deshalb keinen Erfolg hat). Daraus zieht Anna einen gewissen Stolz, aber zugleich ist sie neidisch auf Beths erste Hauptrolle (die viel Nacktheit verlangt). Sie bewundert und verachtet Beth für ihre Fähigkeit, eine passive Empfängerin zu sein, eine weiße Wand, auf die Männer all ihre Fantasien projizieren können. In der zweiten Hälfte des Films versucht Anna genau das. Sie legt sich Beths devoten Habitus zu, der keine Ansprüche stellt, keine „Probleme“ macht, und schwupps laufen die Dinge besser für sie. Ein netter Mann spricht sie an, sie verliebt sich ein bisschen, er stellt sie direkt seinem Kreis vor. Dieser Mann hat am Abend zuvor Beth kennen gelernt. Nun hat er Anna kennen gelernt und nach einer Weile stellt sich heraus, dass er Beth und Anna für dieselbe Frau hält. Beth und Anna sind vor allem eins: blond.
Always Shine zeigt, wie das Showgeschäft Frauen in den Wahnsinn treibt und weibliche Kameradschaft verhindert. Der Film zeigt auch, dass so genannte „starke Frauen“ (wie Anna) nicht freier sind als so genannte „schwache Frauen“ (wie Beth). Diese Binarität um starke und schwache Frauen wurde in den letzten Jahren von Marketingkamagnen angeblich feministischer Oscarfilme gefördert (zum Beispiel Battle of the Sexes und Bombshell). Filme, die „Frauen eine Stimme geben“, aber nur erfolgreichen Frauen, nur „intelligenten“ Frauen, die „wissen, was sie wollen“, schlagfertig, sympathisch, humorvoll und egalitär eingestellt. Dieses Frauenbild schmückt sich feministisch, aber es verbietet Frauen, durchschnittlich, dumm, ziellos, humorlos, unsympathisch und was sonst noch zu sein. Es zwingt sie zur Perfektion und in die Konkurrenz mit anderen Frauen. Filme wie Always Shine, Showgirls oder Mulholland Drive stellen diese Unterdrückung präzise dar. Caitlin FitzGerald und Mackenzie Davis geben verwirrend mehrbödige Performances.
Viele Horrorfilme von Hammer zelebrieren ein Leben zwischen Frommheit und Frivolität in Form von lustiger psychoanalytischer Symbolik. In Twins of Evil ist Peter Cushing ein Hexenjäger, der alle paar Nächte mit seinen Hexenjägerfreunden auszieht, um eine junge Frau zum Verbrennen zu finden. Feuer steht hier für männliche Potenz. Die Hexenjäger verbrennen also Frauen, um sich zu beweisen, dass sie noch einen hoch kriegen (was als Deutung der echten Hexenjagden sicher nicht weit hergeholt ist).
Währenddessen hadert im düsteren Schloss auf dem gruseligen Berg der satanische Graf Karnstein ebenfalls mit seiner Potenz. Alle paar Nächte entführt er junge Frauen, fesselt sie auf eine Bare und macht dann Dinge mit ihnen, die der Film der Fantasie überlässt. Doch der sexuelle Genuss, den der Graf dadurch erhält, reicht ihm nicht mehr. Deshalb opfert er seine neueste Gefangene dem Teufel und bittet ihn, ihm dafür die Pforten zu unendlichem Genuss zu öffnen. Daraufhin erscheint ihm eine junge Version seiner Oma (oder so ähnlich, auf jeden Fall eine Urahne), die ihm befiehlt, mit ihr Sex zu haben. Als Belohnung wird sie ihn in einen Vampir verwandeln. Diese inzestuöse und nekrophile Szene besteht aus einer Nahaufnahme ihrer Hand, die eine brennende Kerze umfasst und sich dabei auf und ab bewegt (Feuer istgleich Erektion). Ein bisschen ab von Karnsteins Burg, irgendwo im Wald (der in wunderschön dämmerigem Blau fotografiert ist), leben die titelgebenden Zwillings-Schwestern, die sich die meiste Zeit des Films in durchsichtigen Nachtkleidern auf dem gemeinsamen Bett räkeln. Die eine ist ziemlich fromm und heißt natürlich Maria. Die andere (Frieda) ist scharf auf Graf Karnstein, wird von ihm zum Vampir gemacht und gemeinsam morden sie großbusige Frauen und stöhnen dabei. Das Ganze endet mit einem Fackel- und Mistgabelmarsch der Dorfbewohner auf die gruselige Burg, wo meine Feuer-steht-für-Potenz-Lesart nicht mehr so ganz aufgeht
Twins of Evil ist einer der empfehlenswertesten Filme für Hammer-Anfänger, denn er ist eine besonders unterhaltsame Einführung in ihren schwelgerischen Rhythmus. Bei Hammer geht es nicht um Plot, sondern ums Schwelgen und Schmachten in Ausstattung, Kostümen und Sets. Hammer-Horrorfilme, insbesondere die Vampir- und Monsterfilme, tauchen alles Sündhafte in lustvolle Farben.
The Social Dilemma ist ein Dokumentarfilm, der vorgibt, über die Gefahren von Sozialen Medien aufzuklären. Tatsächlich klärt der Film wenig auf. Er vereinfacht, verfälscht und lügt, um die Tech-Branche als einzigen möglichen Retter vor einer düsteren Zukunft darzustellen. So untergräbt der Film unser Mitspracherecht und unsere Kritikfähigkeit an den Technologien der Tech-Branche. Kritik soll entweder aus der Tech-Branche selbst kommen oder konstruktiv sein, also systemfreundlich.
1. Böse Technologie und liebe Entwickler
The Social Dilemma besteht aus Interviews. In diesen erklären ehemalige Mitarbeiter von Tech-Konzernen die Sucht-Algorithmen der Sozialen Medien. Wie sie funktionieren, wie sie Profit schaffen und dass sie depressiv, suizidal und politisch radikal machen. Der Film illustriert das in Spielfilmszenen über eine Familie, die beim Abendessen nicht mehr miteinander spricht, weil alle am Smartphone kleben. Außerdem politisiert sich der Sohn, weil er Videos einer fiktiven politischen Bewegung schaut. Die Sucht-Algorithmen sind dargestellt durch drei Männer auf einer Science-Fiction-Kommandobrücke. Sie spielen dem Teenager ständig neuen politisch radikalen Content in die Timeline, weil dieser Content das größte Suchtpotenzial birgt.
Auf den ersten Blick folgt der Film dem Konzept von Erklärung und Illustration. Doch zugleich installiert er drei dramaturgische Werkzeuge: (1) Einen Helden. (2) Einen Bösewicht. (3) Eine Sache, die auf dem Spiel steht.
Auf dem Spiel steht: die Menschheit, also wir selbst. Denn laut Film wird Social Media uns in Bürgerkriege und Feuerstürme stürzen. Davor retten wird uns der Held: eine Mannschaft von Tech-Insidern, die ab jetzt „menschenwürdige“ Technologien entwickelt. Und der Bösewicht: eine außer Kontrolle geratene Technologie.
Diese dramaturgische Konstellation vereinfacht und verfälscht. Sie führt politische Radikalisierung allein auf Soziale Medien zurück, ohne über Themen wie soziale Ungleichheit zu sprechen. Auch spricht der Film über Soziale Medien, aber er spricht nicht über Computer und Smartphones und über die zu ihrer Herstellung nötige Ausbeutung von Billigarbeitern und Umwelt, die Grundlage für die digitale Infrastruktur ist, in der wir heute zwangsweise leben. Auch meidet der Film Themen wie Wissens-Ungleichgewicht, die Abschaffung des freien Willens oder die totale Überwachung unserer öffentlichen und privaten Räume durch Software wie Pokémon Go und alle möglichen Smartgeräte. Ich könnte viel mehr aufzählen, aber der Punkt ist klar: Beim kritischen Blick auf Soziale Medien ergeben sich viele unbequeme Fragen. Diese Fragen scheut der Film völlig.
Mit viel gutem Willen könnte man hier noch ein unschuldiges Versäumnis sehen. Aber tatsächlich schlägt sich der Film auf die Seite der Tech-Branche, indem er ihre wichtigsten Lügen propagiert, und zwar die der außer Kontrolle geratenen Social-Media-Technologien. Diese Technologien sind nämlich gar nicht außer Kontrolle geraten. Sie funktionieren genau, wie ihre Entwickler es wollten.
Justin Rosenstein: traurige Klavier-Akkorde für traurige Tech-Insider
Eben diese Entwickler geben dem Film eine Stimme. Früher arbeiteten sie bei Google, Facebook und anderen. Jetzt behaupten sie, Soziale Medien hätten ein Eigenleben angenommen, das niemand hätte vorhersehen können. Es spricht zum Beispiel Justin Rosenstein, ein ehemaliger Chefentwickler von Facebook. Er sagt, Facebooks Like-Button wurde ursprünglich entwickelt, um der Menschheit „joy“ zu bringen. In Wahrheit entwickelte Facebook den Like-Button nicht als menschenfreundliche Geste, sondern als übergriffiges Werkzeug mit dem Zweck, intimste Daten aus Facebook-Usern zu extrahieren, Facebook-User süchtig nach Likes zu machen, Verhaltens-Experimente mit Facebook-Usern durchzuführen und Menschen zu tracken, die gar keinen Facebook-Account haben.
Die Macher dieser Dokumentation wissen das. Eine Interviewpartnerin ist Shoshana Zuboff, die Autorin von Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus (2018). In diesem Buch belegt Zuboff die menschenfeindlichen Missbrauchspraktiken von Google, Facebook, Microsoft und anderen durch Patentschreiben, interne Mails und Zitate. Doch darauf geht der Film nicht ein. Stattdessen bleibt er beim Märchen der außer Kontrolle geratenen Technologie. Dieses Märchen hat drei Effekte: (1) Es spricht die Tech-Konzerne von ihren Verbrechen frei. (2) Es ordnet die Gefahren der Sozialen Medien falsch ein, weil es die Absichten hinter den Sozialen Medien ignoriert. (3) Es etabliert uns als hilflose Opfer dieser Technologien, deren einzige Rettung wieder neue Technologien sind.
2. Das Center for Humane Technology
Einen dieser Retter stellt uns The Social Dilemma genauer vor: Tristan Harris. Tristan Harris bekommt mit Abstand am meisten Sprechzeit. Er ist der Gründer des Center for Humane Technology (CHT), das The Social Dilemma neunzig Minuten lang bewirbt.
Tristan Harris: Traum-Schwiegersohn
Das CHT ist eine 2018 gegründete Nonprofit-Organisation. Sie vereint Insider aus der Tech-Branche, die uns mit einer „radikal neu gedachten Technologie“ vor den Gefahren der Sozialen Medien retten wollen.
Das CHT beschreibt die Gefahren der Sozialen Medien vereinfacht so: Soziale Medien machen süchtig nach Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeits-Sucht führt zu radikalen Posts. Radikale Posts führen zu Radikalisierung. Radikalisierung führt zu Zerstörung von Demokratie und Gesellschaft.
Das CHT schlägt nun folgende Lösung vor: Design-Konzepte, die eine Schnittstelle schaffen zwischen Technologie, menschlicher Natur und systemischer Veränderung. Das wirkt irgendwie schwammig, oder? Irgendwie unverständlich. Zum Glück schenkt uns die Webseite eine Grafik mit drei sich überschneidenden Kreisen und in der Mitte, wo sich die drei Kreise überschneiden, da erblüht sie, diese wunderbare neue Schnittstelle, die Rettung der Menschheit.
Technologie, menschliche Natur und systemische Veränderung. Drei nichtssagende Begriffe, die trotzdem eine Bedeutung haben. „Technologie“ istgleich „Tech-Konzerne“. „Menschliche Natur“ istgleich „Konsument“. „Systemische Veränderung“ istgleich „Politiker und Investoren“. Die Schnittstelle in der Mitte (CHT) ist der Gewinn, den die Tech-Konzerne durch die Nutzung von „humane technology“ zu erwarten haben.
Jetzt sehen wir, worum es dem CHT wirklich geht: Die Tech-Branche hat ein Image-Problem. In der öffentlichen Diskussion gelten die großen Tech-Konzerne mittlerweile als Überwachungsmaschinen und Monopole, deren Macht geschwächt werden sollte und die vielleicht sogar verboten gehören. Das gefällt den Tech-Konzernen nicht. Denn wenn sich die Konsumenten von den Tech-Konzernen entfernen, entfernen sich auch die Politiker und Investoren. Und je weiter sich die drei Kreise voneinander entfernen, desto mehr schrumpft der Gewinn.
Das muss verhindert werden. Dazu berät nun das CHT die Tech-Konzerne in der Herstellung von „humane technology“. Jetzt können die Tech-Konzerne sagen, dass sie „humane technology“ benutzen, ohne wirklich etwas an ihren Praktiken zu ändern. Das ist, wie einen Kackehaufen mit Parfüm zu besprühen und zu versprechen, dass ab jetzt niemand mehr rein tritt. Klingt blöd, funktioniert aber, denn beim Anblick von Kreisen und Schnittstellen fällt vielen das Hirn aus.
3. Der Wald
Wir können The Social Dilemma und das CHT als Beispiele für eine argumentative Strategie namens Prokatalepsis sehen. Die Prokatalepsis nimmt einen kritischen Einwand vorweg, um diesen präventiv zu schwächen und den nun folgenden Diskurs zu bestimmen. Hierzu nutzt der Film, wie eingangs beschrieben, das dramaturgische Prinzip von Held (Tech-Branche), Bösewicht (außer Kontrolle geratene Technologie) und der Sache, die auf dem Spiel steht (Demokratie, Gesellschaft).
Der Film bewirbt damit eine Weltanschauung, die besagt, dass nur Technologien unsere Probleme lösen können, und die uns zu hilflosen Opfern macht und unser Mitspracherecht unterdrückt. Die interviewten „Kritiker“ kommen, wie gesagt, fast alle aus der Tech-Branche. Einer war mal Risikokapitalgeber von Facebook, der sich nun, da er Milliardär ist, als Facebook-Kritiker aufspielt. Diese Männer müssen der Dramaturgie des Films dankbar sein. Sie stellt nämlich die von ihnen entwickelten Technologien als Mordinstrumente dar, aber befreit sie zugleich von jedem Vorwurf und installiert sie sogar noch als neue kritische Front.
Einer unserer Retter!
Am Ende schlagen die Männer staatliche Regulierungen vor. Ja, die Tech-Branche schlägt Regulierungen für sich selbst vor. Am besten noch ausgearbeitet von Mark Zuckerberg (Facebook), Jeff Bezos (Amazon), Tim Cook (Apple), Sundar Pichai (Google) und Satya Nadella (Microsoft).
Diese Namen lässt der Film brav aus, denn laut Film sind ja die außer Kontrolle geratenen Technologien schuld. Ach, und der Überwachungskapitalismus. Der Film tut so, als kritisiere er die Mechanismen des Überwachungskapitalismus. Dabei naturalisiert er sie nur. Brutalste Gewinnmaximierung ist aus Sicht des Films genauso unausweichlich wie das Wetter. Die armen Milliardenkonzerne können doch nicht anders, sie sind zum Geldverdienen verdammt! Eine richtige Kritik würde die Namen der Verantwortlichen nennen und ihre Haftbarmachung verlangen.
Es gibt viele Kritikerinnen der Tech-Branche, die nicht zur Tech-Branche gehören. The Social Dilemma lässt kaum eine zu Wort kommen. Damit macht der Film deutlich, wer kritisieren darf und wer nicht, nämlich wir nicht. Was beschränkt, inwieweit Kritik an der Tech-Branche möglich ist, nämlich kaum. Das gibt vor, inwieweit über Lösungen nachgedacht werden kann: nur die Tech-Branche kann über Lösungen nachdenken.
Unser Nachdenken über Technologien soll sich aufs Private beschränken. Die Insider geben Tipps wie „Notifications abstellen“, „Smartphone nicht mit ins Schlafzimmer nehmen“ und „Kindern erst ab einem bestimmten Alter ein Smartphone erlauben“.
Vorschläge wie „Werbeverbot auf Sozialen Medien“ oder „Verbot von Milliardenvermögen“ kratzt der Film nicht an. Das wäre nämlich keine konstruktive Kritik, wie sie Computerphilosoph Jaron Lanier im Film fordert. Für ihn sind Kritiker „Antrieb zur Verbesserung“. Übersetzt bedeutet das: Kritik ja, aber bitte nur konstruktiv. Dasselbe haben wir schon in der Schule gelernt, wo destruktive Kritik und Negation schlechte Noten bringen. Konstruktive Kritik ist systemfreundliche Kritik, die dafür sorgt, dass alles bleibt wie es ist.
Seine Abneigung gegenüber der Systemkritik zeigt The Social Dilemma auch in seiner Darstellung von Politisierung und Radikalisierung. Die mit Gruselmusik unterlegten Demonstrationsvideos stellen Demonstrationen an sich als Gefahr für die Demokratie dar. So unterscheidet der Film auch nicht zwischen Neonazis und Linken. Auch in den Spielfilmszenen wird Politisierung als Horrorfilm inszeniert, denn für The Social Dilemma gibt es nichts Gruseligeres als einen Teenager, der sich mehr für Politik interessiert als für Sport. Der Film mag keine Politik. Wir sollen zuhause bleiben bei unseren neoliberal gecasteten Familien in unseren schönen Häusern und die ganze Zeit Netflix schauen. Die Tech-Konzerne werden sich um alles kümmern.
Mit Maggi macht das Kochen Spaß!
The Social Dilemma ist ein Lehrstück dafür, wie die Tech-Konzerne die öffentliche Diskussion über ihre Technologien bestimmen. Diese Technologien durchdringen uns dermaßen, dass es schwer fällt, eine Welt ohne sie zu denken. Wir stehen im Wald, den wir vor Bäumen nicht sehen. In diesem Wald ist The Social Dilemma eine Falle, die uns mit einer Schlinge ums Bein kopfüber nach oben zieht. So hängend sollen wir warten, bis die Tech-Branche uns rettet. Wir haben das Recht, die Technologie, die uns infiltriert, auf einer Basis zu kritisieren, die wir selbst festlegen. The Social Dilemma will uns dieses Recht ausreden, damit wir nicht auf die Idee kommen, den Wald abzufackeln.
In einer Zeit, als der neue Film von Super-Regisseur XY noch nicht standardmäßig auf einer Streaming-Plattform mülldeponiert wurde, sondern im Kino lief, wäre ein neuer quengeliger Charlie Kaufman-Film das zentrale Gesprächsthema in geisteswissenschaftlichen Lesekreisen gewesen. Diese Zeit ist aber um und so greift der Film in seinem verbitterten Kampf gegen die Kunstfeindlichkeit von Netflix zu pompösen Mitteln. Mit dem quadratischen 1,33:1-Format rebelliert er gegen die Widescreen-Monitore des Publikums und das Sound-Design ballert Schneeflocken wie Kanonenkugeln gegen die Windschutzscheibe, damit sich alle ärgern, die den Film mit der Soundausgabe ihres Laptops schauen. Im Glauben, das Publikum damit zu ungeteilter Aufmerksamkeit zu verführen, greift der Film außerdem tief in eine Wundertüte verwirrender Süßigkeiten: überlappende Dialoge, abgebrochene Voice-Over-Monologe, abrupte Schnitte, Positionswechsel, Identitätswechsel, Genrewechsel, Zeitsprünge, Alternativ-Gegenwarten, Alternativ-Schauspieler und zahlreiche Referenzen an Autoren, Bücher, Filme und Brandaktuelles.
In diesem hübschen Gefunkel laufen nun Figuren herum, die im Verhältnis zu all dem eher gewöhnlich wirken. Da ist eine junge Frau (Jessie Buckley), die nach acht Wochen Beziehung mit einem kontrollsüchtigen, cholerischen Mann darüber nachgrübelt, ob sie noch weiter mit ihm zusammen sein will (Antwort: Nein). Und da ist dieser umgrübelte junge Mann (Jesse Plemons), der sich noch als Erwachsener die Anerkennung seiner früheren Schulkameraden wünscht. Zusammen besuchen sie seine Eltern, über deren undefinierte Art seltsam zu sein es nichts weiter zu sagen gibt außer genau das, und fahren am selben Abend wieder zurück. Auf der Rückfahrt führen sie Gespräche, die nicht gerade Szenen einer Ehe (1973) sind, die aber durch den ständigen Einsatz des oben aufgezählten Süßkrams ein angenehmes Unbehagen aufrecht halten, bis sie schließlich einen Abstecher in seine alte Schule machen, wo wir den Beiden noch eine Weile beim Herumlaufen durch die Flure zusehen und sich die filmischen Verwirrspiele zu einem furiosen Finale steigern und irgendwann in ein offenes Ende verpuffen.
Die höchste Unterhaltungspflicht des Films scheint zu sein, das Publikum die ganze Zeit im Unklaren darüber zu lassen, ob das Gesehene gerade Wahrheit oder Traum ist. Durch genau diese Unklarheit soll uns nämlich irgendwann aufgehen, dass die Erzählung dieses Films genauso unzuverlässig ist wie die, die wir uns selbst jeden Tag erzählen. Verblüfft sollen wir nun das Dilemma unserer Existenz darin erkennen, dass wir für immer und ewig Mittelpunkt unserer eigenen Erzählung sind, so langweilig und deprimierend diese auch sein mag. Auf dem Weg zu dieser Erkenntnis verwandelt der Film gewöhnliche Menschen in Filmhelden, indem er ihre eigenen Erzählungen auf sie hetzt. Der Film unterwirft den Alltagsmenschen einer brutalen und ausweglosen Unterhaltungsmaschine. Wenn das eine kulturpessimistische Perspektive ist, dann hat Netflix diese nun gegessen und wartet auf Nachschub vom nächsten Super-Regisseur XY.
In Tenet geht es um eine Superwaffe, die es möglich macht, rückwärts durch die Zeit zu laufen. Betonung liegt auf Laufen, denn es ist kein Sprung hin zu einem bestimmten Punkt in der Zeit, sondern man läuft tatsächlich in der Zeit rückwärts, also gegen den Vorwärtsgang der Zeit. Das ist, als würde man eine Rolltreppe, die runter fährt, hoch laufen. Oder als würde man diesen Text hier rückwärts lesen. Oder als würde man vorwärts durch einen Film laufen, der rückwärts abgespielt wird.
Diese High Concept-Idee ist eingewoben in eine James Bond-Handlung: Ein russicher Bösi (Kenneth Branagh), der ein Bondgirl (Elizabeth Debicki) gefangen hält, will mit besagter Superwaffe die Welt zerstören. Der Held (John David Washington), ein superkrasser Geheimagent, muss das verhindern und zugleich das Bondgirl retten. Dabei spielen alle ein doppeltes Spiel und jeder Plan ist in Wahrheit nur Tarnung für den wahren Plan, der aber auch nur Tarnung für einen noch wahreren Plan ist, und so weiter. Ab der Mitte hab ich nichts mehr verstanden, trotz ständiger Erklär-Dialoge. Ich weiß nur, dass der Film will, dass wir wissen, dass die Männer maximal potent sind, mit teuren Anzügen und BMW. Es gibt auch Frauen in dem Film, drei Stück: Eine erklärt die Grundlagen von Tenet (danach ist sie weg), die zweite ist eine Matriarchin (klar, die muss auch weg), und die dritte ist das Bondgirl. Sie muss gerettet werden, denn sie ist Mutter. Dem Film ist sehr wichtig, dass wir das nicht vergessen. Ein mal erklärt jemand (mal wieder), dass die gesamte Menschheit auf dem Spiel steht, darauf sagt Bondgirl „including my son“. Zudem zeigt der Film Bondgirl mehrfach bei der Ausübung ihrer höchsten Mutterpflicht, nämlich Sohn-von-Schule-Abholen. Was auch das Schlussbild des Films ist. Gerettete Welt, gerettete Mutterpflicht.
Der Spaß des Films versteckt sich in den Szenen, in denen man nichts versteht. Zum Beispiel fährt ein Auto auf der Gegenfahrbahn, und die entgegen kommenden Autos fahren rückwärts, weil wir gerade rückwärts durch die Zeit fahren, während der Held aus einem rückwärts aber eigentlich vorwärts fahrenden Auto beschossen wird, wobei die Kugeln rückwärts fliegen aber eigentlich auch vorwärts, während er einen wichtigen Koffer rückwärts und zugleich vorwärts klauen muss und irgendwie so. In diesen „invertierten“ Actionszenen zerreißt Tenet die Standards des Actionkinos (Verfolgungen, Schießereien, Prügeleien) und näht sie danach nicht wieder zusammen. Die Bewegungen haben keinen Anfang und kein Ende, vorwärts und rückwärts verschmelzen. Das macht den Film sehenswert. Zugleich ist die Action miserabel gemacht. In den Schießereien weiß man nie, wer wo ist. Die Verfolgungsjagden wirken nie schnell und gefährlich. Die Kampf-Choreografien sind wirres Gefuchtel ohne Gefühl für Rhythmus oder für die Ausdruckskraft von Kampfposen. Es ist eine Bilderflut, die verwirrt, fasziniert und erdrückt, die aber kaum mitreißt oder etwas Spannendes erzählt.
Christopher Nolan sollte besser Produzent sein. Es gingen schon viele seiner guten Ideen an sein Regietalent verloren. Er erzählt Tenet komplett in Dialogen. Die Kamera ist nur dazu da, die Dialoge zu filmen. Manchmal fährt sie dabei an die Schauspieler heran und manchmal fährt sie seitwärts. Spielt der Dialog an einem hübschen Ort, steigt Nolan in den Hubschrauber und macht davon eine Postkarten-Aufnahme. Nolans Kamera ist rein dekorativ, sie zeigt uns keine entlarvenden Blicke oder verborgenen Gefühle. Die ganze Zeit läuft Musik, dröhnend, wabernd, wummernd, stampfend. Je lauter die Musik, desto schlechter der Dialog. In den Dialogen wird entweder etwas erklärt oder es wird ein Plan verhandelt. Daraus folgt manchmal eine Actionszene, die das in den Dialogen Gesagte einfach nur illustriert. Beispiel: Die LKW-Sandwich-Sequenz. Hier geschieht nichts. Der Held klettert in voller Fahrt über die Leiter eines Feuerwehrwagens auf ein LKW-Dach, ohne Probleme. Das könnte eine Szene über jemanden sein, der sich in Todesangst an eine Leiter klammert, sie könnte ein unvergessliches Action-Setpiece sein. Aber Nolan verbietet jede Abschweifung, nichts darf seinem miefigen Plot in die Quere kommen, denn die Uhren an den Handgelenken der GQ-Coverboys ticken teuer. Die wenigen Szenen, die der Film auskostet, sind interessanterweise die, die Bondgirl der Gewalt ihres Mannes ausliefern.