In den späten Nuller-Jahren entstanden in Amerika die Extreme Haunts. Das sind Gruselkabinette, in denen die Schauspieler die Besucher berühren dürfen, also richtiger Körperkontakt. In Extreme Haunts geht es oft um Gefangenschaft, Folter, sexuelle Gewalt, also um eine Art Kidnapping-Erfahrung, um Machtverlust.
McKamey Manor ist auf den ersten Blick auch ein Extreme Haunt. Er spielt mit den verbreiteten Vorstellungen von den Folterkellern „kranker Psychos“. Nur hier wird scheinbar wirklich gefoltert. Den Besuchern werden Haare ausgerissen, ihre Köpfe werden in Toilettenwasser gesteckt, sie werden geschlagen und gewürgt, in Frischhaltefolie gewickelt, ihre Finger in Mausefallen gesteckt, ihre Haut mit einer Feile abgschürft, sie werden in Kühlschränke und Särge gesperrt, sie werden angeblich gewaterboardet, und (angeblich) viel mehr.

All das wird gefilmt von Russ McKamey, dem Gründer von McKamey Manor. Aus diesem Material macht er Youtube-Videos. Manche haben über zehn Millionen Klicks. Bis 2017 betrieb McKamey die Show in San Diego, Kalifornien, zusammen mit seiner mittlerweile Ex-Freundin Carol Schultz in einem Einfamilienhaus plus Garten. 2018 öffnete McKamey Manor neu in Summertown, Tennessee. An Carol Schultz’ Stelle trat Russ’ neue und mittlerweile auch Ex-Freundin Holly Shillito. Statt in einem Haus findet die „Tour“ nun vor allem auf einem riesigen Hof und in seiner Werkzeughütte statt.
Der Eintritt ist kostenlos, Teilnehmer sollen nur ein bisschen Hundefutter mitbringen. McKamey Manor ist also kein gewerbliches Unternehmen, das gesetzlichen Auflagen unterliegt. Daraus ergibt sich wohl seine Legalität, denn man besucht McKamey Manor nicht als Kunde, sondern als Privatperson. Dadurch ist die Rechtsschutzbelehrung, die alle Manor-Teilnehmer unterschreiben müssen, wie eine Absprache zweier Sexpartner über eine extreme Spielart. Und da die Gesetze in Amerika die sexuellen Wünsche ihrer Bürger respektieren, dürfte hier einiges erlaubt sein, was im gewerblichen Kontext verboten wäre (so reime ich als Laie mir das zusammen).
Die Rechtsschutzbelehrung ist eine 20-seitige Aufzählung furchteinflößender Foltermethoden, von denen die heftigsten sicher nie angewandt wurden (Zähne ziehen, Nägel ziehen, Injektion irgendwelcher Substanzen etc.). Das Dokument soll einfach Angst machen. Zu diesem Zweck müssen die Teilnehmer die Belehrung vor Antritt der Tour laut vorlesen, woraus McKamey oft schon eine mehrstündige Show macht.
Zudem müssen alle Teilnehmer am Ende jeder Tour ein Schluss-Interview geben, in dem sie (meist völlig verstört und mit geschwollenem Gesicht) sagen, dass sie nicht gefoltert oder misshandelt wurden und alles in ihrem Einverständnis geschah. Es gibt valide Vorwürfe, diese Interview-Aussagen seien erpresst. Im Vorfeld findet Russ nämlich alles Mögliche über das Privatleben seiner Teilnehmer heraus (auch intime medizinische Daten), sodass er mit der Veröffentlichung dieser Informationen drohen kann.
Hauptgrund für die Kontroversen um McKamey Manor, also vor allem um dessen Legalität, ist das fehlende Safeword. Angeblich gab es bis 2014 keins. Dann wurde offenbar doch eins eingeführt, aber laut einigen Teilnehmern hat McKamey es gern auch mal ignoriert. Auch hier kennt niemand die Wahrheit. Gut möglich, dass diese Gerüchte falsch sind und von McKamey gefördert werden, um alles noch spukiger scheinen zu lassen. Wie seine Behauptungen über einen Wettring in Las Vegas, der jede Tour über einen Live-Stream verfolgt. Oder über die Warteliste, auf der sich weltweit 20.000 Menschen eingetragen haben sollen. Nichts, was McKamey erzählt, ist irgendwie zuverlässig.
Wie sich McKamey finanziert, ist nicht ganz klar. Laut Carol Schultz bekommt er eine ordentliche Pension von der Navy. Sicher kommt auch ein bisschen was über Fan-Spenden zusammen. Vor ein paar Jahren verdiente er noch Geld als selbstständiger Hochzeitssänger. Die Frage der Finanzierung ist also nicht so mysteriös wie sie in Foren gemacht wird.

McKameys Youtube-Videos würde ich ins Horror-Subgenre des Snuff einordnen. Der Begriff „Snuff“ kommt aus dem Film The Slaughter (1976), auch bekannt unter dem Titel „Big Snuff“. Ein Horrorfilm, dessen Macher es schwer hatten, ihn zu verkaufen, weil er schlicht zu mies war. Deshalb behaupteten sie, hier sei zu sehen, wie eine Frau wirklich getötet und zerstückelt werde. Zudem hatte der Film keine Texteinblendungen, was den Echtheits-Eindruck verstärken sollte. Dieses Marketing brachte den Film groß in die Medien und in mehreren Ländern vor Gericht. Noch heute ranken sich Mythen drum und seitdem steht das Wort „Snuff“ für Aufnahmen von angeblich echter Folter und Morde in kommerziellen Filmen. Tatsächlich sind Snuff-Filme kommerzielle Filme, die nur so tun, als zeigten sie diese Dinge. Dazu zählen auch die italienischen Mondo- und teilweise die Kannibalen-Filme, wobei für diese Filme tatsächlich Tiere gequält wurden. Erwähnenswert sind die Faces of Death-Filme aus den späten Siebzigern bis in die frühen Neunziger, die zumindest in den Neunzigern noch einigermaßen berüchtigt unter Jugendlichen waren. Oder auch Found Footage-Horrorfilme wie August Underground (2001), der Gewalttaten im Home Video-Stil zeigt und dabei weit hinaus geht über das gewohnte Maß an Sadismus in einem Mainstream-Horrorfilm. August Underground arbeitet, wie viele dieser Filme, mit Andeutungen. Er zeigt ein bisschen Gewalt, aber das Schlimmste überlässt er der Fantasie. Im Snuff-Genre geht es darum, den Eindruck möglichst krasser Gewalt zu erzeugen und diesen Gewalteindruck so authentisch wirken zu lassen, dass das Publikum sich fragt: Ist das wirklich nur ein Film? Die Macher von Snuff-Filmen achten deshalb sehr auf den Veröffentlichungs-Kontext, machen ein Geheimnis um ihre Herkunft und die Produktionsbedingungen und verheimlichen möglichst auch die Kommerzialität des Projektes. Zugleich müssen sie ihre Filme klar als künstlerische Werke kennzeichnen, sonst können sie wegen Körperverletzung angezeigt werden. Sie dürfen also nicht einfach DVDs mit authentisch wirkenden Mordszenen auf die Straße legen, da diese kontextlos eine traumatisierende Wirkung haben können. Die Kunst besteht also darin, die Filme gerade noch im Rahmen der Legalität zu veröffentlichen. In diesem Sinne hilft es, Snuff weniger als Filmgenre und mehr als Performance-Kunst zu begreifen.
Das wiederum hilft, McKamey Manor zu begreifen. McKameys Konzept ist, das Publikum im Unklaren zu lassen, ob die auf Youtube geladenen Grausamkeiten echt sind oder inszeniert, ob sie (wie McKamey oft betont) nur ein Bruchtteil dessen sind, was „wirklich“ in McKamey Manor passiert, oder ob es in Wahrheit das Eindrucksvollste ist, was er aus dem Material melken konnte. In den Foren (Youtube-Kommentare, Reddit, Facebook) wird viel diskutiert und auf Youtube gibt es viele „Exposing the Truth“-Videos über McKamey. Manche sagen, das sei alles ein Schwindel, die Foltertouren existierten gar nicht. Manche sagen, McKamey sei ein Irrer, der einen legalen Weg gefunden hat, seine Folterfantasien auszuleben. Manche unterschreiben Petitionen, um McKamey Manor verbieten zu lassen. Manche verteidigen McKamey Manor als legitime Grenzerfahrung. Wer hier richtig liegt und wer falsch, spielt keine Rolle, denn das Konzept geht auf: Die Leute reden drüber, sind fasziniert und verunsichert und vor allem bringen sie sich ein in das Spiel um Fiktion und Wahrheit, das McKamey Aufmerksamkeit verschafft. Mittlerweile ist McKamey amerikanische Folklore.
Die McKamey-Videos sind offensichtlich die Selbstinszenierung eines extremen Narzissten, der möchte, dass Menschen über ihn reden und neugierig auf ihn sind. Die Videos sind teilweise fünf Stunden lang, von denen mindestens vier Stunden Russ allein vor der Kamera zu sehen ist, wie er die „Experience“ erklärt und Erwartungen auf das Videomaterial schürt, das wir immer mal wieder fragmentarisch zu sehen bekommen (unterlegt mit beschissener Musik und schlechten Soundeffekten).

Aber Inszenierung und Performance-Kunst hin oder her, die Reaktionen der Teilnehmer wirken authentisch verstörend. Sie schreien, zittern und starren katanonisch. Ihre Verletzungen sind echt: ausgerissene Augenbrauen, abrasierte Haare, Blutergüsse, Veilchen, zerrissene Lippen, geschwollene Wangen. Russ McKamey wirkt auch tatsächlich wie jemand, der Spaß daran hat, Menschen zu quälen. Via Google Maps kann man das Gelände von McKamey Manor sehen (12 Stephenson Rd, Summertown, TN 38483, USA) und sogar den berüchtigten Rattenkäfig (berüchtigt, weil McKamey ihn ständig erwähnt). Dazu kommt der Kult, der sich in geschlossenen Facebook-Gruppen um McKamey gebildet hat. Und mittlerweile „leaken“ dubiose Youtube-Kanäle Videos, die „ungekürztes“, also unfragmentiertes Material seiner Touren zeigen (und die aus unerfindlichen Gründen eine ziemlich schlechte Bildqualität haben). Und es gibt mittlerweile Interviews mit verschiedenen Menschen, die McKamey persönlich kennen und sich von ihm entfernt haben (seine Tochter, seine Ex-Freundinnen, mehrere Teilnehmer, frühere Mitarbeiter), und sie alle bezeichnen die Zeit mit ihm als traumatisch und ihn selbst als gefährlichen Manipulator. Diese Interviews finden auf unseriös wirkenden Youtube-Kanälen statt, im Rahmen stundenlanger Live-Streams, und werden nicht von professionellen Journalisten geführt, die sich einer Sache ruhig und vernünftig annähern, sondern von ewig schwadronierenden Hobby-Journalisten, die von klar definierten Grundannahmen ausgehen.
Wirklich gute journalistische Auseinandersetzung mit McKamey Manor ist selten. Es gibt zwar einige Artikel, aber die sind oft reißerisch und moralisierend oder stellen das Thema unterkomplex dar.
Für mich ist McKamey Manor eine Art von Performance-Kunst, die durch die Rezeption im Internet eine unvorhersehbare Dynamik erhalten hat. Mich interessiert dabei nicht, ob das Gezeigte echt oder Russ McKamey böse ist. Mich interessiert, was McKamey Manor über die Macht oder die Funktion der Bilder sagt. Ich denke, dass man Filme wie The Slaughter (1976) oder Faces of Death (1978) als Antworten sehen kann auf die immer explizitere Darstellung von echter Gewalt im Fernsehen und vor allem in den Fernseh-Nachrichten. In den Siebzigern war es vor allem Filmmaterial aus dem Vietnamkrieg, das zum ersten Mal Aufnahmen echter Gewalt in die Wohnzimmer der Amerikaner brachte (vielleicht waren das die ersten Snuff-Filme). Ähnlich lassen sich Filme wie August Underground (2001), die Extreme Haunts oder eine Kuriosität wie McKamey Manor als Antworten auf den War on Terror sehen, als Versuch, durch fiktionale Gewalt die durch 9/11 sichtbar gewordenen Komplexitäten der Welt in ein simples Konzept (zum Beispiel Gut/Böse) einzufassen.
Weiterführende Links:
- Lesenswerter Artikel von Nashville Scene
- Haunters: The Art of the Scare (2017), Dokumentation über Extreme Haunts, die viel von McKamey Manor zeigt
- Website von McKamey Manor
- Promo-Video, fünf Minuten (durch dieses Video bekam McKamey erstmals große Aufmerksamkeit)
- Beispiel für ein Tour-Video, 45 Minuten (die in dem Video gezeigte Frau beschuldigte Russ McKamey später der Misshandlung und Erpressung, das war auch noch in San Diego)
- Video vom McKamey Manor-Standort in Summertown (McKamey redet ewig über sich selbst, nicht auszuhalten)
- Playlist eines Youtube-Kanals, der mehrere Menschen über McKamey interviewte (alles sehr lang, auch kaum auszuhalten)
- Youtube-Kanal, der behauptet, geheime Videos von McKamey-Manor zu leaken
- die Rechtsschutz-Belehrung (gibt wohl viele verschiedene, aber diese wurde mal geleakt):